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Milliarden
Lotto Tour 2024
Photo Credits: Christoph Voy

Kennengelernt im Schauspielstudium, entdecken Ben Hartmann und Johannes Aue sofort ihre Gegensätze und die damit verbundene Anziehung. 2013 gründen sie das Rockgebilde Milliarden. Als Kreativschmiede sind sie zu zweit geblieben. Für die Live-Umsetzung ihrer Lieder und im Aufnahmestudio kommt ein fester Kreis an Musikern dazu. Die sind, laut Hartmann, allesamt bessere Instrumentalisten als er und Aue. Texte und Kompositionen, die gestalterischen Impulse, stammen hingegen ausschließlich von den beiden Milliarden-Gründern. Das mit der Musik fing früh an, mit ungefähr 12. Die Kindergärtnerin, die im Plattenbau in Berlin-Marzahn-Hellersdorf eine Wohnung nebenan bewohnte, konnte zwei, drei Griffe auf der Akustischen spielen – wie eigentlich jede Erzieherin. Ein paar gelauschte und selbstausprobierte Akkorde öffneten Hartmann und Aue eine Welt, in der sie sein konnten. Danach kam Punk. Der Haltung wegen. In der sechsten Klasse gab es Mitschüler, die sich Nazis nannten und kurzgeschorene Haare trugen. Denen begegnete Hartmann mit bunten Schnürsenkeln, seinem ersten Irokesen und der Energie des Skatepunk. Die Freunde aus den benachbarten Asylantenheimen, Russen, Bosnier, Kasachen, und der erste, beste Freund aus der Mongolei, förderten mit ihren Lebensgeschichten ein humanistisches Menschenbild, das zur Überzeugung wurde. Als werbende Geste will Ben Hartmann seine Vita und das was ihn und Johannes Aue ausmacht nicht missverstanden wissen. Sozialromantik ist ihm genauso suspekt wie das schlagwortgerechte Für und Wider unserer Zeit. Man muss Musik nicht mit marktkonformer oder zeitgeistiger Heureka!-Politur anbieten. Sie darf auch für sich sprechen. Nach zwei Alben-Veröffentlichungen („Betrüger“ 2016 und „Berlin“ 2018) und über fünf Jahren Bandrealität wächst 2020 der Wunsch nach mehr Eigenständigkeit. Milliarden gründen das Label „Zuckerplatte“ auf dem 2021 ihr letztes Album „Schuldig“ erschien und woe sie nun Neus zu verkünden haben:

Ohne Gewähr: Die Berliner Band Milliarden veröffentlicht ihr neues Album „LOTTO“

toi, toi, toi!

Transitzonen in Flughäfen haben eins gemeinsam, ganz gleich, in welchen sich der Mensch gerade aufhält. Sie verdeutlichen eher nebensächlich, wie seltsam mobil das Leben ist. Ben Hartmann von der Berliner Band Milliarden sitzt während des Gesprächs übers neue Album „LOTTO“ in einem solchen Übergangsbereich fest. Der Flieger von Madrid zur Spreestadt verspätet sich. Theoretisch passiert um ihn herum gerade nicht viel. Spannung liegt dennoch in der Luft. Gerade an Orten wie diesen. Es wird hin und her gereist, von Süd nach West, von Kontinent zu Kontinent, von einer Wahrnehmung zur nächsten. Vielleicht ist tatsächlich etwas dran am geflügelten Wort: Vorfreude ist die schönste Freude. Zum einen ist nie gewiss, was auf der anderen Seite der Reiseroute momentan ist. Zum anderen steigt die Neugier aufs Weggehen mit jedem Ankommen von vorne. Das temporäre Verweilen im staatenlosen Areal schafft somit den perfekten Rahmen für den Gedankenaustausch über die neuen Songs der Milliarden. In denen geht es um den naiven Zustand im Leben, um die gespannte Erwartung. Ben Hartmann und Johannes Aue, die beiden Platzhalter der Band, machen im Transitbereich Chancen aus. Das leuchtet ein: Musikmachen ist seit jeher ein Glückspiel. In manchen Protagonisten der Pop-Historie lässt es regelrechte Spielsucht erkennen. Hartmann und Aue gibt das ungeschriebene Blatt von morgen ein gutes Gefühl. Der Albumtitel „LOTTO“ beschreibt entsprechend vielmehr die Sehnsucht nach dem Ungewissen als das eigentliche Glücksspiel. Der wirkliche Hauptgewinn kann nie Geld sein. Es ist ein Abfallprodukt von Arbeit.

neun richtige

Offenherzig, beinahe eingängig steht der Song „Das erste Mal“ am Anfang des „LOTTO“-Wegs. Frei von krachenden Rabauken-Gitarren und doch radikal drückt das Stück den Wunsch danach aus, Zeit dehnen zu können. Die Lust darauf, Fristen- und Termindiktaten zu entkommen, mag arglos erscheinen. Die Utopie, Vergänglichkeit mit einem Lachen wahrzunehmen, birgt jedoch die Chance, zu ihr tanzen zu können. Ob jemand eine Weisheit in dem Text ausmachen möchte, hängt freilich vom Ohr des Betrachters ab. Indes ist die Vorstellung, kein Sklave von Aktiengesellschaften zu sein, denen die Zwangsdigitalisierung jedes einzelnen Menschen zur Gewinnmaximierung dient, reizvoll. Wollen wir hässliche Markt-, Produktions- und Endgeräte-Zombies sein? „LOTTO“ reißt digital-monochrome Oberflächen mit der Lust auf, mal draußen zu schlafen, so als wär's „Das erste Mal“. Und mit Liebe. Aus der erwuchsen in den vergangenen Jahren Wut und Wunsch danach, über Pazifismus und eine neue Trauerkultur zu singen. Gegenwärtig werden Diskurs, Sensibilität und gesammeltes Wissen offensichtlich doppelmoralisch verkannt. Wir wollen uns dümmer machen, als wir sind. Milliarden finden diesen Zustand unerträglich, aber nicht unumkehrbar. Chancen lassen sich aufzeigen. Die „Psychose“ im luftig schwingenden Rumba-Mantel kann den Weg aus der giftintensiven Selbstmedikation weisen. „Sag nie die Wahrheit“ ist ein Post-Punk-Manifest, das mit einer Sprachform spielt, die mit der Realität, wie wir sie uns erklären, bricht. Es geht ums Falsche in Spielregeln, Heuchelei und Liebe.

zusatzzahl

Der Albumaufbau zieht förmlich rein ins Dialogfeld der Gewichtung und Gegengewichtung und in den Wecker-Alarm. Ergriffenheit folgt ihm auf dem Fuße. „Fürchte dich nicht“ und „Sternenflimmern“ ergeben beinahe eine Einheit, der Übergang ist klug arrangiert. Worte, die mit einem Gedicht Jörg Fausers umgehen, gibts nur im vorderen Teil des ersten der beiden Lieder zu hören, den großen Rest erzählt die Musik. Plötzlich entstehen riesige Panoramen des unausgesprochenen Selbstwahrnehmungsaustauschs zwischen Songmachern und Zuhörern. Der zweite Song des Liedpaars beginnt, wie der vorherige endete, wortlos. Großes Lob gebührt an dieser Stelle dem Trommler, der den live gespielten Drum&Bass-Puls einer unbestimmten Größe entgegenschlägt. Der Text der Sternennummer will weg von weltlicher Wörterkakofonie, hin zum lyrischen Ausdruck. Wäre „LOTTO“ eine Figur, hätte sie keine Lust mehr auf den vergewaltigten und bis zur Unkenntlichkeit verbrauchten Begriff Solidarität. Es zöge ihn zur Sensibilität. „Deine Musik“ erzählt von einer Heimat, die ein Sound, ein Geruch oder eine Person ist - gleichsam Schutzraum bietend und gewaltvoll. Die Kinderliedreimsilben „Pa pa papapa“ illustrieren das Paradoxon am Song-Ende geradezu plastisch. Der innewohnende Sound einer Jugend geht in „Mantel“ über. Das Sterben eines Elternteils hat die Pubertät geklaut und die Teilnahme an einer Trauerkultur losgetreten, die erstickt. Alle Relikte, die auf jene geliebte Person verweisen, sind von Schmerz und Ohnmacht besetzt. Erst als das Erzähler-Ich merkt, dass es ein Glücksfall ist, ausgeraubt zu werden, wirft es einen anderen Blick auf die lebenslange Trauerdroge. Davon wegzukommen bedeutet, atmen zu können. Am Ende fleht es: Räumt mir satten Ratte den Keller bitte leer!

gewinnausschüttung

Das „LOTTO“-Album berichtet Profundes vom Kriegsschauplatz Sex. Es kann dem Frühlingshaften, das geborstenen Illusionen naturgemäß folgt, viel abgewinnen. Alles steht zur Disposition, immer und überall. Was heute gegeben ist, nimmt morgen eine andere Form an; weniger greifbar, fast unsichtbar. So gesehen wurde das neue Milliarden-Album „LOTTO“ klug betitelt. Die „richtigen“ Zahlen von heute sind die „falschen“ von morgen. Oder, um es aufs Langspielplattenformat zu übertragen: Das Musikmachen spielt auf Zeit und vermeintlichen Gewinn, sehnsüchtig voller Vorfreude. Das Spielen mit Möglichkeiten zeichnet den eigentlich sandkornkleinen Song groß. Haben, halten, loslassen, neufinden – die „LOTTO“-Songs haben ihren Ursprung in dem Begehr, etwas sagen zu wollen, das man versteht, ohne zu wissen, was es ist. Ben und Johannes sind weniger Autoren, die Geschichten kreieren und konstruieren als vielmehr Musikmaler ihrer Erlebniswelten. Da das Leben kein Vakuum duldet, gibt´s auf „LOTTO“ verstörend schöne Bilder zu entdecken, vielschichtig und doch sorglos-mutig gepinselt. Wie beim ersten Mal.

Mola

Molas Musik ist die ungeschönte Antithese zu einer rosaroten Welt. Sie feiert sich kaputt, zieht dich mit in ihr inneres Chaos und verzichtet auf übliche romantisierende Verklärungen der unbarmherzigen Orientierungslosigkeit, die einen nach der letzten Kippe auf dem Nachhauseweg einholt.

Dass Mola eine Grenzpendlerin ist, weiß sie selbst am besten - daraus hat sie auch nie ein Geheimnis gemacht. Vielleicht war es Schicksal, dass der Lauf der Dinge sie kurz nach ihrer Geburt im italienischen Erba in der strengsten Metropole Deutschlands ausgesetzt hat. In München, wo sich frei Fliegen und frei Fallen ein bisschen komplizierter darstellen als im Sündenpfuhl Berlin, in den man Isabella Streifeneder und ihre Musik ganz selbstverständlich verorten würde, wenn man es nicht besser wüsste. Temporär reduziert intim, um dann in ikonischem 80er „Purpel Rain“ Pathos zu eskalieren, illustriert Mola das Gefühlschaos, das der innere Dialog von linker und rechter Gehirnhälfte in ihr auslöst. Unkonventionelle Popmusik, die die Nonchalance großer Soul- Hymnen, die Anmut des Italo-Disco der Achtziger und die Ungeniertheit lasziver HipHop- Banger bündelt, statt auf Krampf modern klingen zu wollen. Mola zelebriert die Niederlage, entlarvt Lebenslügen, moniert das Erwachsensein, dokumentiert radikale Stimmungsschwankungen. Sie balanciert im Ballkleid am Abgrund entlang, macht Scherze, worüber man keine Scherze macht, preist und verflucht den Rausch und die Liebe - »Vino Bianco schmeckt nicht mehr nach Dolce Vita, er schmeckt nur noch nach Verlieren«.

Man sieht Mola nach ausverkauften „Nichts macht mich kaputt“ Shows in München, Köln, Berlin & Hamburg nun als Support für Fatoni, Roy Bianco & die Abbrunzati Boys, Mayberg und Kaffkiez im Strobolichtgewitter. Zusätzlich zu einer Festivalsaison, die man sich schöner nicht hätte ausmalen können, steht endlich eine große eigene Tour zum nächsten Album bevor, das im September das Licht der Welt erblicken wird. Nach über 40 Festivals „Schnee im Sommer“ auf namenhaften Bühnen wie dem Lollapalooza Berlin, Rocken am Brocken, Puls Open Air, aber auch als Support von Udo Lindenberg auf dem Hermann-Hesse-Festival klingt „Das Leben ist schön“, die verflixte zweite Platte, schon fast zynisch, ironisch oder einfach naiv? Am Ende auch egal, denn wenn einen dieses spontane, jeder Rationalität ferne Gefühl überkommt, stellt man keine Fragen. Es schmeckt nach der Melancholie eines Sommers in den letzten Atemzügen, nach dem letzten Drink einer kompromisslos wahnsinnigen Nacht.

Es wird zusammen geschwitzt, gepogt und gefühlt. Auch da, wo es weh tut. Man ist nicht nur Zaungast oder stiller Zuschauer, sondern Teil dieses empowernden Gefühl
von „Wir“.

Pressematerial

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